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München diskutierte im Livestream: Maßgeschneiderte Strategien und Anreize sollen unsere Arzneimittelversorgung sichern

Die einst stabilen pharmazeutischen Lieferketten in Deutschland sind ins Wanken geraten. Experten aus Pharma-Industrie, Biotech-KMU, Wissenschaft und Pharmaverband diskutierten im Livestream. Foto: © BioM

Es fehlt nicht nur an Schmerzmitteln und Krebsmedikamenten: „Es wird knapp - wie sichern wir unsere Arzneimittelversorgung“ hieß das Thema der 9. Livetalk-Runde des FORUM Science & Health - Live aus dem WERK 1 von BioM.  Vertreter aus Pharma-Industrie, Biotech-KMU, Wissenschaft und Pharmaverband diskutierten über die Ursachen der aktuellen Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln und wie alternative Lieferketten und Produktionen die Versorgung mit Medikamenten sicherstellen könnten. Konsens der Diskussion war, dass es hierfür maßgeschneiderter Strategien für verschiedene Medikamente bedarf, dass Anreize geschaffen werden müssen für einen „gesunden Markt“ mit „gesunder Diversifizierung und Wettbewerb“ und mehr Anbietern.

Die globalen Krisen wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben in Deutschland die Abhängigkeiten bei Lieferketten von Arzneimitteln deutlich aufgezeigt. Fehlende Fiebersäfte und Krebsmedikamente waren da nur der Anfang. Doch wie kann einer Abhängigkeit von asiatischen Wirkstoffherstellern und Auftragsunternehmen begegnet werden? Zusätzlich verschärft würden Arzneimittel-Engpässe durch gesetzliche Neuregelungen wie dem „Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-FinStG). Die Industrie mahnt: der Markt für viele Medikamente sei unattraktiv, die Lieferketten nicht mehr sicher und die Entwicklung von innovativen Medikamenten regulatorisch sowie finanziell nicht mehr stemmbar.

Über diese Aspekte diskutierte am 10. März BR-Wissenschaftsredakteurin Jeanne Turczynski mit ihren Gästen in der 9. Folge des erfolgreichen digitalen Formats "FORUM Science & Health“ (hier geht es zur Aufzeichnung).

Als Experten geladen waren: Prof. Dr. Richard Pibernik, Inhaber des Lehrstuhls für Logistik und Quantitative Methoden an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Han Steutel, Präsident des Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (VfA), Matthias J. Weber, Finanzvorstand der Hexal-Gruppe, und Dr. Johannes Schmidt, COO des RNA-Therapeutika-Herstellers RNATICS GmbH aus Martinsried/Planegg bei München.

Matthias Weber bedauerte den gesundheitspolitischen Kurs, der die Lieferengpässe beim Pateinten täglich spürbar machen lässt. Kostenschrauben würden den Unternehmen angelegt und damit gezwungen, sich aus der Produktion bestimmter Arzneimittel zurückzuziehen. 80 Prozent aller Arzneimittel, die in Deutschland zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verschrieben, abgegeben und abgerechnet werden sind Generika, machen jedoch nur sieben Prozent des Arzneimittelbudgets aus. „Aktuell bekommen wir als Generika-Hersteller acht Cent für eine Tagesdosis eines Krebsmedikamentes und sieben Cent für eine Penicillin Tagesdosis – das ist weniger als für eine Kaugummipackung.“ Er fordert von der Politik eine Basis, die den europäischen Markt für Generika-Hersteller wieder attraktiv macht und damit sich Lieferketten diversifizieren.

Zusätzlich müssten mehr Anreize, wie die Anpassung der Abgabepreise, geboten werden, damit wieder Anbieter in den Markt zurückkehren. Lagerungsvorhaltungen seien bei kurzfristigen Engpässen auch eine Möglichkeit, aber wieder mit Kosten verbunden, wodurch sich Anbieter wieder zurückziehen würden.

Prof. Richard Pibernik, Leiter einer Forschungsgruppe in der EU-Initiative EThiCS-EU (Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union) mit dem Schwerpunkt: „Mehr Versorgungssicherheit mit lebenswichtigen Arzneimitteln“ argumentierte: „Unsere Lieferketten für lebenswichtige Medikamente müssen robuster und unabhängiger von einzelnen Ländern wie China und Indien werden. Um unsere Bevölkerung zu versorgen, brauchen wir eine tragfähige Strategie und weniger Aktionismus.“

Dabei könnte es mitunter individuelle Strategien für wichtige, versorgungskritische Medikamente geben. Schrittweise müsste hier bewertet werden, welche Möglichkeiten bestünden, um auf Versorgungsengpässe zu reagieren, z.B. mit Sicherheitsbeständen wie in den USA oder in Einzelfall der Rückverlagerung der Produktion.

Han Steutel vom vfa führte seinerseits an: „Für eine sichere Arzneimittelversorgung brauchen wir mehr Diversifizierung bei Vorprodukten und eine innovative Pharmaindustrie vor Ort. Die Chancen und Möglichkeiten dafür sind da und wir sind dazu bereit. Die Politik wäre jetzt gut beraten, die Weichen dafür zu stellen.“

Eine Rückverlagerung oder Subventionierung von Produktionen sei jedoch volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, wenn Produktionen im Ausland kostengünstiger sind. Insbesondere in Bezug auf manche Medikamente, die vor allem auf den Intensivstationen unverzichtbar seien, müsse nachgedacht werden, wie man hier autonom würde. Ein Frühwarnsystem über potenzielle Engpässe wäre eine Möglichkeit. Solche Monitoringsysteme würden bereits existieren und wären kurzfristig einsetzbar.

Dass gerade innovative deutsche Unternehmen in der Medikamentenentwicklung und -produktion auf kostengünstigere Produktionsmöglichkeiten im Ausland angewiesen sind, konnte Johannes Schmidt, COO bei RNA-Therapeutika-Hersteller RNATICS bestätigen: „Für junge Biotech Start-ups ist eine schnelle und flexible Verfügbarkeit von Produktionskapazitäten für die erfolgreiche Entwicklung innovativer Medikamente in der Frühphase essentiell.“

In Europa sei man auf große Produzenten angewiesen, die entsprechende Vorlaufzeiten benötigten. Diese könnten junge Unternehmen aber nicht liefern. Flexibilität sei gefordert. Die Produktion jedoch sei komplex und auch abhängig von verfügbaren Zwischenprodukten und Einsatzstoffen. Die Lieferkette sei nicht der letzte Schritt der finalen Produktion zum Patienten hin.

Abschließend wurde resümiert, dass Deutschland in Teilbereichen wieder Apotheke der Welt sein könnte, wenn die optimalen Bedingungen, die durch Corona geschaffen wurden, genutzt würden. Die Abgabepreise müssten erhöht werden, damit mehr Anbieter eine langfristige Versorgung mit Arzneimitteln sicherstellen könnten. Es gelte grundsätzlich zu klären, wie abhängig Deutschland sein will. Und zuletzt seien Investitionen in die nächste Generation von innovativen Medikamenten langfristig eine Verbesserung der Versorgung: Hier bräuchte es Risikobereitschaft, damit Deutschland bezüglich Innovation an vorderster Front steht.